Die Geschichte des ORA
Die Anfänge
Die Gründung des Oratorienvereins mit dem Ziel, aus der Heidenheimer Bürgerschaft ohne Ansehen des Standes klassische Kirchenmusik zur Aufführung zu bringen, fand am 9. November 1908 statt. 47 Frauen und 25 Männer folgten dem Aufruf zur Vereinsgründung in das evangelische Vereinshaus. Der evangelische Dekan Eytel und seine Nachfolger hatten bis 1953 satzungsgemäß den ersten Vorsitz des Vereins inne.
Die Kriege und Neuanfänge
Den nötigen Neuanfang nach dem 1. Weltkrieg initiierten der Studiendirektor Krockenberger und Dekan Schönhut. Der Verein geriet allerdings nach dem Krieg wegen des Zerfalls der deutschen Währung in große Finanznöte, auch im Zusammenhang mit der Durchführung der Proben. Ein Mitgliedsbeitrag wurde nötig und in die Winterproben brachte man Briketts und Holzscheite mit. Vor jedem Konzert herrschten große Sorgen wegen der Finanzierung der Konzerte. Jede Aufführung wurde mit den Jahren zu einer Existenzfrage des Vereins.
Es war damals Sitte, dass der Organist der Pauluskirche gleichzeitig Leiter des Oratorienchores war. Dieses Amt übernahm 1937 Helmut Bornefeld, in einer Zeit, in der das Naziregime auch das kulturelle Leben diktierte. Gerade Bornefeld stand in Schwierigkeiten wegen seiner Arbeit mit Neuer Musik. Bornefelds Tätigkeit endete abrupt 1938 nach einer Zusammenkunft aller Chorleiter zur Gleichschaltung der Chorarbeit. Weil ihn sein Vorgänger als Kulturbolschewisten bezeichnete und ihm die Zusammenarbeit verweigerte, beendete Bornefeld seine Arbeit mit dem Oratorienchor. Der autoritären Forderung des damaligen Pfarrers Pfähler, die Leitung des Chores nach Kriegsende wieder zu übernehmen, verweigerte sich Bornefeld. Die Arbeit übernahm dann zunächst Dirigent Hauslaib und ab 1950 der Aalener Kantor Herbert Tuschhoff, und dies 35 Jahre bis zu seinem letzten Konzert am 16. November 1985 mit der h-Moll-Messe von J. S. Bach im Saal der Waldorfschule Heidenheim.
Herbert Tuschhoff und Georg Schneider
Die kollegiale Wertschätzung zwischen Helmut Bornefeld und Herbert Tuschhoff gewährleistete über lange Jahre ein gutes Verhältnis zwischen den Heidenheimer Kirchenchören und dem Oratorienchor. Gegenseitige Aushilfen waren selbstverständlich. Bis auf den heutigen Tag singen Sängerinnen und Sänger hier wie dort.
Ganz wesentlich für die erfolgreiche Chorarbeit in den Tuschhoff-Jahrzehnten war die gleichzeitige Arbeit des Vorsitzenden Georg Schneider, geboren im Jahr der Vereinsgründung 1908, tatkräftig und mit gleicher Liebe zur Sache unterstützt von seiner Frau Brigitte. Er war der erste 1. Vorsitzende, der nicht Dekan war. Beide Männer gestalten in ihren Jahrzenten des Wirkens die Zusammenarbeit mit den Partnerstätten Clichy und St. Pölten. Gemeinsame Konzerte des Oratorienchores mit den dortigen Chören, insbesondere dem Domchor St. Pölten, festigten langjährige Freundschaften.
Gert Baetge, Thomas Kammel und Newport
Nachfolger von Tuschhoff wird der Heidenheimer Musikschulleiter Gert Baetge. In den frühen 90er Jahren liegt der Beginn der Freundschaft mit den Mitgliedern des Philharmonic Choir in der Partnerstadt Newport/Wales. Einen wesentlichen Anteil an der Pflege der Freundschaft trägt die Ehrenvorsitzende Rose Schmissrauter.
Spontan erklärt sich Thomas Kammel, Musiklehrer am Schillergymnasium Heidenheim, nach dem plötzlichen Tod von Gert Baetge im Oktober 1998 zur Leitung des Oratorienchores bereit. In seine Zeit des Wirkens fällt das 100-jährige Vereinsjubiläum.
Neuer Probenraum
Als 2010 die Generalsanierung des Paulusgemeindehauses ansteht, muss sich der Chor nach einem neuen Probenraum umsehen, nachdem der Chor seit den späten 20er Jahren dort geprobt hatte. Chor und traditioneller Probenort finden nach der Fertigstellung der Sanierung nicht mehr zusammen. Mancher empfindet dies als eine bedauerliche Trennung. Nach Zinzendorfgemeindehaus und „Roter Halle“ im Gebäudekomplex der ehemaligen WCM findet der Chor ab 2015 sein Unterkommen mit Probenrau und Notenarchiv in der Alten DHBW in der Wilhelmstraße.
Ulrike Blessing
Seit 2015 steht der Oratorienchor Heidenheim unter der künstlerischen Leitung von Ulrike Blessing, die die lange Tradition des Wirkens des Oratorienchors weiterführt und weiterentwickelt.
Die jüngere Geschichte und Gegenwart
Neben der Konzerttätigkeit auf höchstem Niveau unter der Anerkennung der begleitenden Orchester, der Solistinnen und Solisten, der Presse und insbesondere des Publikums, wird die jüngere Vereinsgeschichte allerdings auch von negativen Entwicklungen beeinflusst.
Wie fast alle Chöre leidet auch der ORA an schwindender Männerpräsenz. Oft finden sich zu den Proben nur 2 oder 3 Tenöre ein, eine Hand voll Bässe. Für Konzerte werden Säger von auswärts zur Verstärkung eingeladen. Die Choronazeit erforderte ein alternatives Probenkonzept. Probenzeiten wurden zur Einzel-Stimmbildung am Computer-Bildschirm über Zoom genutzt. Die weiten Abstände, die dann im Probenraum eingehalten werden mussten, stellten eine neue Herausforderung an die Sängerinnen und Sänger dar. Möglicherweise hat der Chor letztlich wegen der Pandemie das eine oder andere Mitglied verloren. Auf jeden Fall aber sind die Besucherzahlen nach Corona spürbar gesunken. Dies führt zu einer weiteren Problemstellung. Zunehmend schwieriger wird die Finanzierung der großen Konzerte. Noch tragen Zuschüsse und Spenden deutlich zur Bewältigung der Kosten bei. Ein großer Dank für die Kontaktpflege zu Förderern und Spendern gebührt dem 1. Vorsitzenden Dr. Norbert Tempel. Leider müssen aber auch immer mehr die Rücklagen der Kostendeckung dienen. So sind die Verantwortlichen außerordentlich dankbar für die großzügige Unterstützung von vielen Seiten, aber auch in großer Sorge, dass es bald nicht mehr reichen könnte, große Konzerte mit geistlicher Oratorienmusik aus der Heidenheimer Bürgerschaft heraus darbieten zu können. Dies abzuwenden ist das erklärte Ziel der Verantwortlichen.
Joachim Richter (Qellen: die Festschriften von 1983 und 2008)